Glutenfrei, Laktosefrei, Alles Frei? Die teuer erkaufte „Freiheit“

02.04.2019 / Ernährung & Gesundheit

Der Mensch isst seit Jahrtausenden Weizen, trinkt seit Jahrtausenden Milch – letztere zumindest in weiten Teilen Mittel- West- und Nordeuropas. Seit ein paar Jahrzehnten und unheimlich zunehmend seit ein paar Jahren scheint der Mensch Weizen und Milch immer weniger zu vertragen – neben einigen anderen bislang unbescholtenen Lebensmitteln. Ein wachsender Nischenmarkt wandelt diese Schein-Unverträglichkeiten um in handfeste Scheine, die er damit verdient. 

„Nein, bitte keine Nudeln für mich!“ So mein großer Filius vor einiger Zeit beim Abendessen. Ich will wissen warum (eigentlich weiß ich’s schon, aber ich will es ihn aussprechen hören). „Na, weil der Drecks-Weizen total ungesund ist und praktisch überall drin, oft versteckt, hab ich gelesen.“ Und obwohl ich wie gesagt schon ungefähr wusste, was da kommen wird, brennen mir beim Wort Dreck die Sicherungen durch und heiliger Zorn ergießt sich über das Haupt meines im Unwissen verlorenen Sohnes: „Denkst du wohlstandsverwöhnter ‚Ernährungsexperte‘ auch nur eine Sekunde nach, bevor du einen derartigen Mist nachplapperst? Weizen, das heilige Korn, das Milliarden von Menschen seit Jahrtausenden ernährt!“ Ich schimpfe weiter wie ein Rohrspatz und weiß natürlich schon während ich mich allmählich beruhige, dass ich aus der Rolle gefallen bin und das Abendessen ruiniert habe. Aber was soll’s, mittlerweile hat mein Sohnemann seine plötzlich auftretende „Weizenunverträglichkeit“ überwunden, wir konnten unseren Weizen-Streit beilegen und uns ganz zivilisiert und auf Faktenbasis darauf einigen, wie wichtig Weizen für unsere Zivilisation ist und nicht etwa verantwortlich für alle möglichen ihm angedichteten Zivilisationskrankheiten. Vielleicht, denk ich mir im Nachhinein, muss doch manchmal auf den Tisch gehaut werden? 

Weizen, das heilige Korn, das Milliarden von Menschen seit Jahrtausenden ernährt!

Das Geschäft mit der Angst oder: Einbildung ist auch eine Bildung

Laut Wikipedia leiden im weltweiten Schnitt knapp 4 von Tausend an Zöliakie – also krankhafter Glutenunverträglichkeit. Für 4 von Tausend ist es daher entscheidend notwendig, sich streng glutenfrei zu ernähren und das ein ganzes Leben lang. Heißt umgekehrt, für die restlichen 996 bringt eine glutenfreie Diät nicht nur keine Vorteile sondern sogar zwei gravierende Nachteile, wie im Video, das ich am Ende eingebunden habe, eindrücklich aufgezeigt wird. Erstens kosten glutenfreie Produkte wesentlich mehr als ihre konventionell hergestellten Pendants und zweitens müssen die fehlenden Klebereigenschaften ja irgendwie substituiert werden, was oft eine ganze Reihe von Zusatzstoffen erledigen: Emulgatoren, Verdickungsmittel, Fette, Zucker etc. etc. Für mehr Geld bekomme ich weniger Ballaststoffe, weniger Geschmack und dafür mehr Kalorien…

"glutenfrei" als Antwort auf echtes Bauchgrummeln oder eingebildete Unverträglichkeit?

 

Auch Milch wird zunehmend angezweifelt

Wie ist der Sachverhalt bei Laktoseintoleranz? Ähnlich wie bei Zöliakie gehen hier die Prävalenzen, also die Kennzahlen für die Häufigkeit der davon Betroffenen innerhalb einer Bevölkerung zwischen den Weltregionen und auch innerhalb einzelner Staaten derselben Region weit auseinander. In den klassischen „Milchregionen“ Westeuropa, Australien und Nordamerika sind es 5–15 Prozent der (erwachsenen) Bevölkerung, denen Milchkonsum Bauchweh verursachen würde. Ihnen fehlt das Enzym Laktase in ausreichender Menge, das den Milchzucker aufspalten hilft. In Afrika und Asien hingegen ist der überwiegende Bevölkerungsanteil laktoseintolerant. 

Als Ersatzprodukte bietet der Markt laktosefreie Milch und Drinks auf pflanzlicher Basis an, die allerdings nicht als „Milch“ bezeichnet werden dürfen, wie Soja-, Mandel, Haferdrinks etc. Auch laktosefreie Milchprodukte erfreuen sich zunehmender Beliebtheit beim „laktoseintoleranten“ Konsumenten und bei allen, die einfach auf Nummer sicher gehen wollen. Da spielt es dann auch keine Rolle, dass Butter und ebenso die allermeisten Käsesorten von Haus aus nur minimale Mengen Laktose enthalten. Diese können somit auch von intoleranten Personen problemlos vertragen werden. Der Käufer von teureren lacto-free Butter und Käse tut sich und seiner Geldbörse also nix gutes. Na wenigstens freut es die Molkereien…

Butter und ebenso die allermeisten Käsesorten enthalten von Haus aus nur minimale Mengen Laktose.

Wie sieht es bei den laktosefreien Milchersatzprodukten auf pflanzlicher Basis aus? Diese erfreuen sich ebenfalls zunehmender Beliebtheit, da sie obendrein noch „tierleidfreien“ Genuss versprechen. Um aber allein schon das angestrebte milchige Mundgefühl beim pflanzlichen Ersatzprodukt zu erzielen, müssen auch hier Zusatzstoffe her. Auch können die Milchersatz-Drinks von Natur aus in Sachen Vitamine und Mineralien (v.a. Kalzium) nicht mit dem Original mithalten, weshalb diese zugesetzt werden. Und schließlich soll das Zeug ja auch noch nach was schmecken, also wiederum ab ins Chemielabor.

Soja"milch" aus Sojabohnen 

 

Laktoseintoleranz ist zusammengefasst wesentlich verbreiteter als jene gegen Gluten und bei Milchprodukten kommt häufig die unterstellte „Tierleidproblematik“ dazu, die den Griff zur Alternative motiviert. Wie auch immer: Auch hier greifen die meisten Konsumenten ohne jeden ernährungstechnischen Vorteil tiefer in die Tasche.

Ein interessanter Selbstversuch

Wenn dir drei Ernährungsberatungsinstitute unabhängig voneinander aufgrund von Blutproben individuelle Ernährungspläne erstellen, was kommt dann dabei heraus? Interessante Frage. Eine bekannte deutsche Food-Journalistin hat sich diesem Selbstversuch ausgesetzt und ihn medial eindrucksvoll verarbeitet, wie du im Video weiter unten sehen kannst. Sie hatte sich bei den drei Instituten unter Angabe von ganz diffus geschilderten Verdauungsproblemen („zeitweises Völlegefühl“, „Blähungen“ – also ganz normale Erscheinungen!) angemeldet und war daraufhin individuell beraten worden, nach Analyse ihrer Blutwerte.

Spoiler hier: Die drei erstellten Ernährungspläne, die aufgrund der Blutproben allesamt die lauernde Gefahr von Unverträglichkeiten zu berücksichtigen angaben, erklärten jeweils komplett unterschiedliche Lebensmittel als zukünftig tabu für die „Patientin“, weil diese das Verdauungssystem der Frau angeblich nur unvollständig verstoffwechsle. Weil sie also Gefahr laufe, sich eine manifeste Unverträglichkeit bzw. gravierende gesundheitliche Probleme zuzuziehen. Einig waren sich alle drei nur darin, dass Weizen und Kuhmilch auf jeden Fall vom Speiseplan gestrichen gehören! Das fand ich dann doch einigermaßen bemerkenswert – Weizen und Kuhmilch.

Die Journalistin wandte sich an die klassische Schulmedizin, welche ihr einzig und allein eine Birkenpollenallergie als zweifelsfrei attestierte – keinerlei Unverträglichkeiten oder Allergien im Zusammenhang mit Lebensmitteln! Das ist schon ein vielsagendes Ergebnis des Experiments, denk ich mir. Ich muss das gar nicht erst weiter kommentieren.

Ein Luxusproblem

Das Geschäft mit den Ernährungsängsten der Menschen boomt. Ein klassisches Luxusproblem. Möglich nur auf der Basis absoluter Ernährungssicherheit. Nur angesichts voller und übervoller Regale kommen immer mehr Menschen auf die Idee Grundnahrungsmittel zu hinterfragen. Zwielichtige Ernährungsberater, Bestsellerautoren, findige Kochnischenbesetzer und geschäftstüchtige Produzenten von „gesünderen“ Alternativprodukten nehmen sich dieser Fragen und Ängste nur zu gerne an…