Wer regional zu eng denkt, hungert die Region aus!

14.11.2018 / Landwirtschaft & Lebensmittelproduktion, Lebensraum & Nachhaltigkeit

Ein zu enger Regionalitätsbegriff bewirkt das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt! Wer beim Einkauf von Lebensmitteln seine Region schon beim übernächsten Nachbar(dorf) enden lässt, sieht sich (häufig) nicht etwa in der nächstgrößeren „Region“ um, sondern kauft gleich vom globalen Markt. Zumindest scheint das für die heimische Gastronomie so. Darauf deuten erste vorläufige Ergebnisse einer von Land schafft Leben initiierten und in Kooperation mit dem IMC Krems durchgeführten Befragung hin, die wir kürzlich präsentiert und diskutiert haben. Wollen Österreichs Wirte und Land-Wirte zusammenwachsen und die Gräben überwinden, die sie jetzt oft trennen, muss ein zu enger Regionalitätsbegriff radikal in Frage gestellt werden! Eine Überlebensfrage – für beide übrigens…

 

Am 5. November haben wir von Land schafft Leben zum „Lebensmittel-Dialog“ nach StWolfgang geladen. Dort diskutierten wir, wie Landwirtschaft und Tourismus „partnerschaftlich einen MehrWert“ schaffen können, laut dem Motto der Veranstaltung. Wir luden dazu eine Reihe hochinteressanter Vortragender aus beiden Bereichen. Ich will im Folgenden versuchen, den Sukkus dieses Tages aus meiner Sicht herauszuarbeiten.

Kennt ihr das Land Touristika?

Kennt ihr schon Österreichs 10. Bundesland? Dr. Thomas Guggenberger, ein Forscher an der HBLFA Raumberg-Gumpenstein, nennt dieses fiktive Bundesland, das alle touristisch relevanten Bezirke umschließt, kurzerhand Touristika: Ganz Tirol und Salzburg, weite Teile der Bundesländer Vorarlberg und Kärnten, dann schon nur mehr noch kleinere Teile von Oberösterreich und der Steiermark und natürlich ganz Wien. In Touristika konzentrieren sich 85 Prozent des heimischen Tourismus‘ mit 123 Millionen Nächtigungen.

 

 

Wollte sich nun Touristika regional, sprich aus möglichst eigener Produktion ernähren, dann gute Nacht! Auch ohne den Bedarf, der zusätzlich durch die Gäste entsteht, reichen die Kalorien, die aus regionaler Quelle stammen, bei weitem nicht aus. Wobei hier ein genauerer Blick noch Interessanteres offenbart. Was zunächst absurd erscheint, nämlich, dass sich ausgerechnet Wien zur Not mit ausreichend Kalorien aus regionalem Umfeld eindecken könnte, hätte wohl keiner so leicht vermutet. Während das für Innsbruck, wie für ganz Tirol, bei weitem nicht möglich ist.

Österreichs agrarischer Osten versorgt den touristischen Westen mit

Wien und die Südoststeiermark, die beide zwar klar zu Touristika gehören, aber von der Kernzone geographisch getrennt sind, besitzen ein fruchtbares Umfeld. Das Marchfeld und das „Vulkanland“ werfen ein mehrfaches an verwertbaren Kalorien ab wie die inneralpinen Tourismuszentren, wo kaum Getreide wächst, sondern (fast) nur Grünland über den Umweg Kuh (und Schaf und Ziege…) mit Milch, Käse und Fleisch zur Ernährung beitragen kann. Eindrucksvoll belegen dies folgende Grafiken:

Wer also Kitzbühel, Schladming oder Lech am Arlberg im engeren Sinn regional ernähren wollte, der liefert Einheimische und Gäste gleichermaßen ans Hungertuch. Muss deshalb gleich der ganze Regionalitätsbegriff aufgegeben werden? Eindeutig nein, so die Conclusio von Thomas Guggenberger, der ich mich vollinhaltlich anschließe. Er muss nur sinnvoll adaptiert werden.

Regionale Leitprodukte für die Kernregion…

Die Region im engeren Sinn sollte regionale Leitprodukte pushen und diese vollständig und hochwertig verwerten. Dazu nennt er das Beispiel „Kuh“ als den eindeutig relevantesten regionalen Nahrungslieferanten in der westlichen Kernzone von Touristika. Sie liefert Milch, Butter und Käse und natürlich noch Kalb- und Rindfleisch.

 

Zwar lebt auch die Kernzone von Touristika nicht von Rind allein, aber – zumindest wünscht sich das Thomas Guggenberger und ich mit ihm – als regionales Leitprodukt wäre nichts geeigneter als die Kuh mit ihren wunderbaren „Geschenken“ an uns Menschen. Sprich, in seinem Geist entsteht eine fantasievolle alpine Küche, die wieder lernt alles vom Rind zu verwerten. Selbstverständlich würde auch diese Küche alle anderen Fleischarten und Fisch und vegetarische und internationale Gerichte bereithalten. Im Zentrum aber würde wieder die Kuh stehen, wie sie das im alpinen Raum lange Zeit getan hat.

…Und nationale Produkte für (fast) den ganzen restlichen Warenkorb

Woher kommen dann die Lebensmittel für den restlichen Warenkorb? Geht es nach der Forderung von Thomas Guggenberger, zunächst vorzugsweise aus Österreich. Er formuliert denn auch seinen zweiten Schritt hin zum verantwortungsvollen Umgang in der Nahrungsbeschaffung in „Touristika“ unmissverständlich: „Akzeptiere das Bundesgebiet als zentralen Regionsbegriff! Auch hier gelten die hohen Standards, die du für deine Kleinregion akzeptierst!“

Zusammengefasst: Die Region kann unter einem kulinarischen Leitprodukt durchaus eng aufgefasst werden. Dort wo sie an ihre Eigenversorgungsgrenzen stößt, muss nicht gleich das Tor zur weiten Welt aufgemacht werden. In einem nächsten sinnvollen Schritt wird der Regionsbegriff auf das Bundesgebiet ausgedehnt. Dieses bietet nämlich eine umfassende Produktpalette mit der alle Küchen in Touristika am Kochen gehalten werden könnten, abgesehen von zusätzlich benötigten „Exotika“. So hätte der Weinviertler Ackerbauer, der steirische Schweinebauer und der oberösterreichische Hendlmäster auch etwas vom Tourismuskuchen. Und umgekehrt! Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass „Herkunft Österreich“ als Label in Touristika, mit dem (erweiterten) Regionalitätsbonus ausgestattet, auch beim Gast als Mehrwert ankommt.

Der (scheinbare) Nebennutzen als (tatsächlicher) Hauptnutzen

Ich komme noch einmal auf die Kuh als Leitprodukt zu sprechen. Die Kuh (und das Schaf und die Ziege usw.) liefern nämlich neben den genannten essbaren Benefits für die touristische Region noch einen Nebennutzen, der sich bei näherem Hinsehen rasch als die Hauptsache entpuppt. An der Kuh (usw.) hängt nämlich ein ganzer Rattenschwanz an Konsequenzen für den Tourismus. Die Kuh und der Bauer, der sie hält, halten nämlich den Schlüssel zur touristischen Verwertbarkeit von ganz Kern-Touristika in Händen.

Ohne Kuh, ohne Bauern verliert Touristika sehr schnell, was es jetzt ganz grundsätzlich attraktiv macht. Die landschaftliche Schönheit nämlich, die uns Einheimischen oft gar nicht mehr auffällt, die aber die Herzen unserer Gäste höher schlagen lässt. Neben unseren Berggipfeln ist es die Kulturlandschaft, die unmittelbar darunter anschließt, die dem Auge gefällt, weil sie Ruhe und Anhaltspunkte spendet. Die Almen, die bewirtschafteten Bergbauernhöfe und schließlich die ebenfalls gepflegten Talböden sind dem wandernden Fuß gangbarer Weg und erreichbares Ziel.

Wie die untenstehende Bildfolge schön zeigt, sucht das Auge sofort die hellgrünen Rodungsinseln im umgebenden Wald auf, um sich daran festzuhalten. Wald ist schön, wenn er einrahmt. Wald wird schnell unattraktiv, wo wir uns nicht mehr in ihm zurechtfinden. Und essen können wir ihn auch nicht. 

 

 

 

Tourismus mit und ohne landwirtschaftliche Einbettung

 

Zu teuer und nicht verfügbar?

Womit ich zum Essen zurückkomme. Ich kann die Einwände schon hören. Schön und gut wird es aus der Tourismusbranche entgegenhallen, aber erstens: Wer kann sich in dem beinharten Preiskampf, der auch im Tourismus herrscht, (fast) ausschließlich die teureren heimischen Lebensmittel leisten? Und zweitens: Sie sind ja in ausreichender Quantität (und Qualität) gar nicht erhältlich, das ganze Jahr über.

Diese doppelte Mär konnte in einem bemerkenswerten Vortrag Manfred Kröswang widerlegen. Als ein Großhändler, der seine Kundschaft überwiegend in der Gastronomie hat, kennt er deren Bedürfnisse sehr gut. Die Philosophie des eigenen Hauses, das aus einem oberösterreichischen Bauernhof hervorgegangen ist, bleibt in dieser Herkunft verwurzelt, fühlt sich dieser verpflichtet. Deshalb ist ein großer Teil der angebotenen Produkte heimischer Provenienz.

10, 20, 70 Cent teurer…

Manfred Kröswang hat sich nun anhand der Warengruppen Schwein, Rind und Geflügel den „Spaß erlaubt“ auszurechen, wie groß der Preisunterschied ausfällt zwischen dem heimischen und dem billigsten ausländischen Konkurrenzprodukt, welches er seinen Kunden in der Gastronomie anbietet. Und zwar, wenn dieser runtergerechnet wird auf die einzelne Portion am Teller des Gastes. Das Ergebnis hat uns alle erstaunt. Wissen wir doch, dass beispielsweise heimisches Geflügel tatsächlich deutlich teurer ist im Einkauf und das auch sein muss, weil es unter ungleich höheren Standards produziert wird. Aber selbst bei Huhn und Pute schlägt dieser Umstand gerade mal mit 70 Cent zu Buche pro Essen im Gasthaus! Beim Schwein sind es läppische 10 und beim Rind 20 Cent! Zu teuer?

Auch den oft gehörten Zweifel an der ganzjährigen Verfügbarkeit heimischer Produkte in einwandfreier Qualität relativiert Kröswang. Setzt man nach den oben beleuchteten „Guggenbergerschen Regionalitätsmaximen“ die erweiterte Region mit dem Bundesgebiet gleich, ist bei den meisten Produktgruppen ganzjährige Verfügbarkeit kein Thema. Vor allem dann, wenn sich die Küchen in den einzelnen Regionen von Touristika mehr als bisher zunächst einmal nach regionalen Leitprodukten, wie der Kuh, orientieren.

Auf zu neuen kulinarischen Horizonten

Diese angedachte Rückbesinnung auf eine „alpinen Küche“ böte die zusätzliche Chance, dass sich Touristika und damit Österreich als Tourismusland insgesamt wieder als kulinarische Destination mit eigenständiger, unverwechselbarer Küche im internationalen Wettbewerb etabliert. Fantasiebegabte Spitzenköche würden so „rund um die Kuh herum“ eine ganze kulinarische Welt entstehen lassen, die von A bis Z stimmig wäre. Und sich damit peu a peu von der Allerweltsküche verabschieden, die heute in den heimischen Kochtöpfen zumeist vorherrscht. Österreich könnte seinen Ruf als kulinarisches Schwergewicht zurückgewinnen!

Wenn man noch dazu nimmt, dass laut unseren ersten Befragungsergebnissen Gäste eine hohe Bereitschaft zeigen, etwas mehr für ausgewiesene heimische Qualität zu bezahlen, dann sind wir von einer Win-Win-Situation nicht mehr weit entfernt.

Landwirt und Wirt – es geht nur zusammen

Bleibt dennoch ein weiter Weg bis dorthin, da mache ich mir nichts vor, wo sich Landwirt und Wirt tatsächlich zum gegenseitigen Nutzen die Hand reichen. Zurzeit tun sie das jedenfalls nicht. Nicht im großen Stil. Wie ich zu zeigen versucht habe, hätten vor allem die Wirte allen Grund dazu hier umzudenken. Natürlich müsste im offenen Gespräch diese zukünftige Zusammenarbeit im Detail ausgearbeitet werden. Auf Basis von Thomas Guggenbergers meiner Ansicht nach bahnbrechenden und nicht von der Hand zu weisenden Erkenntnissen und den daraus abgeleiteten Grundforderungen. Mit Fantasie und Kreativität, aber eben mit dem sicheren Wissen, dass man einander braucht, dass man mittelfristig nur miteinander die Zukunft sichern kann.

Geht nämlich der Landwirt und nimmt seine Kuh mit, dann folgt ihm bald auch der Wirt…

 

Dieser Blog erschien zeitgleich gedruckt im Rahmen einer Kooperation mit dem Bayerischen Landwirtschaflichen Wochenblatt

 

Und hier Thomas Guggenbergers Vortrag in voller Länge